Evangelische
Kirchengemeinde
Köngen
Kanzelrede 2019
← Zurück zur Kanzelrede−Hauptseite
Kanzelrede 20.11.2019
mit Frau Rosemarie Kirschmann
Dipl. Sozialpädagogin und Psychotherapeutin

20191120_BussUndBettag
20.11.2019: Auch in diesem Jahr wird am Buß− und Bettag in Köngen wieder eine Person zur Kanzelrede eingeladen. Grundgedanke ist, auch nach Abschaffung des Feiertages und in einer säkular gewordenen Gesellschaft darüber nachzudenken, worin unsere religiösen Wurzeln liegen und aus welchen Werten und Traditionen sich unsere Gesellschaft entwickelt hat. Kritisches Nachdenken über problematische Entwicklungen unserer Gesellschaft und die Frage, wo und wie eine Neubesinnung, ein Richtungswechsel gelingen kann, werden von der Rednerin aufgenommen.

In diesem Jahr kommt Frau Rosemarie Kirschmann nach Köngen in die evangelische Peter− und Paulskirche. Frau Kirschmann ist Dipl. Sozialpädagogin und Psychotherapeutin, lange Jahre war sie Leiterin der Telefonseelsorge. Sie spricht zum Thema „Menschliche Unzulänglichkeit und unser Ringen um das Gute“. Ich−Bezogenheit, Individualisierung und andererseits Selbstaufgabe und die Sorge für den Mitmenschen werden in ihrem Vortrag bedacht.

Hier nun die vollständige Kanzelrede von 20.11.2019:
(Sie können sich die Kanzelrede auch hier als pdf ansehen und/oder herunterladen.)

Mein Nachdenken mit Ihnen über den Bußtag ist von meinem beraterisch−seelsorgerlichen Blickwinkel auf uns Menschen und auf unsere Gesellschaft geprägt.
Es scheint es mir bemerkenswert, dass die Ev. Kirche mit dem Buß− und Bettag einen Feiertag eingerichtet hat der nur und ausschließlich der ethischen Verfasstheit von uns Menschen gewidmet ist. Der wenig Bezug hat zum Leben und Wirken Jesu, zum Jahreskreis, zu den christlichen Glaubensinhalten. Sondern allein uns Menschen gewidmet ist − und zwar nicht im Hinblick auf unser Vermögen, unser Können, sondern im Hinblick auf unser Scheitern. Und das soll unser Thema heute Abend sein:
Von unserer Unzulänglichkeit und unserem Ringen um das Gute
Im Buß− und Bettag drückt sich ein Menschenbild aus, das vor allem unsere Unzulänglichkeit unterstreicht, um die uns zu kümmern dieser Tag uns nahelegen will, und gerade nicht unsere Möglichkeiten:
Zum Beispiel der Möglichkeit, über uns hinauszuwachsen, zum Beispiel unserer Fähigkeit zu lieben, unsere Kraft f&uumL;r andere zu sorgen, unserer Fähigkeit zum Mitgefühl, unserer Opferbereitschaft, unsere Solidarität, unser Engagement für eine bessere Welt. Zu dem allem sind wir genauso fähig!!
Man könnte sich nun trefflich daräber streiten, ob das Menschenbild des unzulänglichen, scheiternden Menschen selbst eine Einseitigkeit des Christentums darstellt − oder ob es in seinem Pessimismus tatsächlich ein realistisches Menschenbild ist. Ich weiß es nicht. Dennoch bleibt mein Einwand gegen dieses verdunkelte Menschenbild dieser: Wenn wir Menschen auf ihr auch vorhandenes negatives Potential festlegen, dann erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit, dass gerade dieses negative Potential wirksam wird.
Trotz dieses grundsätzlichen Einwandes soll unser Nachdenken heute Abend um unsere menschliche Unzulänglichkeit kreisen. Denn der Buß− und Bettag ist der Tatsache gewidmet, dass wir Menschen auch Schattenseiten haben und wir Fehler machen können. Als Einzelne und als Gesellschaft. Beidem möchte ich jetzt nachgehen.
Menschliche Unzulänglichkeit begegnet uns täglich in vielen Formen, sei es im Handeln der Mächtigen dieser Welt, sei es im Alltag mit den Mitmenschen, mit denen wir zu tun haben. Und natürlich begegnet uns die Erfahrung der Unzulänglichkeit auch bei uns selbst. Die Erfahrung unserer eigenen Unzulänglichkeit ist sehr unangenehm. Sie entmachtet unsere Selbstgefälligkeit, sie demütigt uns, sie hinterfragt unseren guten Willen, unsere Kompetenz, und sie schadet unserem Image. Darum tun wir alles, um unsere eigene Unzulänglichkeit vor anderen und auch vor uns selbst zu verbergen. Dabei sind wir sehr erfolgreich.
Weil wir unsere Unzulänglichkeit auch vor uns selbst verbergen, können wir uns letztlich nie wirklich sicher sein, ob und in welcher Weise es uns gelingt, wirklich der Mensch zu sein, der wir gerne wären. Trotzdem sehen sich fast alle Menschen selbst in einem recht positiven Licht. Auch die Menschen, die von anderen nicht wirklich positiv erlebt werden, auch sie halten sich für einen guten Menschen und ganz in Ordnung. Diese Erfahrung zeigt, dass auf unsere Selbsteinschätzung nur bedingt Verlass ist.
C.G. Jung beschrieb diese menschliche Eigentümlichkeit treffend mit dem Begriff "Schatten". Unser Schatten fällt hinter uns, wenn wir im Licht stehen, und so sehen wir ihn erstmal nicht. Er ist uns nicht bewusst. Das ist einerseits auch ganz praktisch. Denn im Schatten sind diejenigen unserer Eigenschaften versammelt, die mit unseren bewussten Werten nicht im Einklang stehen oder ihnen sogar widersprechen. Eigenschaften, die wir darum auch ablehnen. Das kann eine Tendenz zum Neid sein und zum Rivalisieren, das kann Geiz sein, ein Gerne−um−sich−selbst−Kreisen, das kann Selbstgerechtigkeit sein, eine Tendenz zur Banalität, Kleinkariertheit oder zu heimlichen Größenphantasien, oder was auch immer. Den Schatten verheimlichen wir nicht nur vor uns selbst, er wird auch vor den Blicken anderer verborgen und kommt nur gelegentlich zum Vorschein, z.B. bei einem Konflikt. Heimlich kann uns der Schatten dann dazu verführen, an Anderen genau das Negative überdeutlich wahrzunehmen, das wir bei selbst ausgeblendet haben. Und wenn sich andere so verhalten, wie wir es an uns selbst nicht mögen, dann reagieren wir heftig.
Das, was wir aber an uns selbst positiv bewerten, bauen wir ein in unser bewusstes Bild von unsrer Persönlichkeit. Diese Seite von uns lebt als unsere öffentliche Person, mit der wir uns gerne zeigen und identifizieren. Beide Seiten, unser Licht wie unser Schatten, sind aber wie ein Geschwisterpaar, das zusammengehört. Wie Kain und Abel. Und für beide Seiten sind wir verantwortlich.
Der Buß− und Bettag erinnert uns daran, dass wir trotz gutem Willen, trotz unserem Bemühen, ein integerer Mensch zu sein, eben auch Eigenschaften haben, die uns peinlich sind, die wir nicht gut erkennen, und die kennen zu lernen auch unbequem ist, und die wir daher lieber wegdenken. Aber wenn wir uns bewusst werden und sind, dass es in uns, neben unserem guten Willen, neben unseren Stärken auch ganz schwierige Seiten gibt, sind wir schon viel näher an uns selbst.
Dann sind wir auch weniger überheblich, wir sind nicht mehr so selbstgerecht und spielen uns mit unseren Stärken nicht mehr so sehr auf. Wir werden eher leise und dadurch für unsere Mitmenschen erträglicher. Vielleicht wächst auch unsere Bereitschaft zu verzeihen und wir werden großherziger, auch uns selbst gegenüber. Auch dann, wenn wir mal wieder unserem Idealbild von uns selbst nicht so ganz entsprochen haben. Vielleicht gelingt es uns dann manchmal, wenn wir uns gerade selbst bei einem ethischen Flop ertappt haben, dass unser Schatten wehmütig − und sehnsuchtsvoll dem anderen Bild unserer selbst zuwinkt − dem, dem wir so gerne entsprächen.
Bei der Buße geht es nicht um Schuld und Sühne, sondern um Sinnesänderung und Umkehr, ein wichtiger Unterschied. Denn Sinnesänderung und Umkehr sind auf eine bessere Zukunft gerichtet, Schuld und Sühne auf die Vergangenheit.
Ganz kurz möchte ich in diesem Zusammenhang auch auf Schuld und Schuldgefühle eingehen.
Viele von uns, die noch in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind, sind mit Schuldgefühlen groß geworden. So reagieren wir auf vielerlei Konfliktkonstellationen mit Schuldgefühlen, und meistens haben unsere Schuldgefühle wenig oder gar nichts mit realer Schuld zu tun. Wir haben Schuldgefühle, wenn wir Erwartungen nicht entsprechen können. Wenn wir anders fühlen oder denken als die Anderen, oder andere Prioritäten wählen. Wir fühlen uns für alles und jedes, vor allem für Probleme unseres Partners/ Partnerin oder Kinder verantwortlich. Oft verläuft auch eine Konfliktlinie zwischen unserem eigenen Inneren, und den Erwartungen von außen. Schuldgefühle sind quälend. Sie sind schwer erträglich, darum folgen wir ihnen oft. Wir handeln dann so, wie es von uns erwartet wird, auch dann, wenn spüren, wir müssten eigentlich „Nein“ sagen. Über unsere Schuldgefühle sind wir leicht zu manipulieren und verhalten uns oft schon automatisch und in vorauseilendem Gehorsam genau so, wie wir „sollen“. Statt diesen Konflikt zwischen unserer inneren Haltung und den äußeren Erwartungen − der die Schuldgefühle aktiviert − zu erleben und zu erleiden, unterwerfen wir uns dem „Ich müsste“. Wir verbiegen uns, weil das oft weniger beeinträchtigend ist als ein nagendes Schuldgefühl. Aber Schuldgefühle binden große Mengen an Lebensenergie und sind nutzlos, denn sie helfen nicht weiter.
Von diesen Schuldgefühlen zu unterscheiden ist die echte Schuld. Schuld entsteht durch Handlungen, bei denen wir absichtlich oder versehentlich ein anderes Wesen beschädigt haben, ihn oder sie beeinträchtigt haben, ihm in irgendeiner Form seine Lebensenergie weggenommen haben. Nicht−gesühnte Schuld ist eine schwere Belastung von Beziehungen, manchmal über Generationen hinweg. Echte Schuld ist so schwer erträglich, dass sie meist verleugnet wird, abgewehrt, oder man schiebt sie ab auf andere. Dadurch entsteht neue Schuld.
Auch echte Schuld kann geheilt werden, unter zwei Bedingungen: Wir müssen vollumfassend die Verantwortung für unser Schuldig−geworden−sein übernehmen, die Schuld annehmen und auf uns nehmen. Das heißt auch, auf alle Ausreden und Bagatellisierungsversuche ganz zu verzichten. Und wir müssen zweitens einen gerechten Ausgleich für unsere Schuld finden, und zwar gerecht für den Betroffenen, nicht für uns selbst. Und wir müssen diesen Ausgleich engagiert betreiben. Das erste ist das schwerere, denn Schuld anzuerkennen bedeutet den Stolz zu besiegen. Aber: dieses Opfer des Stolzes bringt Heilung, und inneren Frieden. Und oft Versöhnung. Und wir lernen dabei, unser Verhalten zu verändern.
Nun möchte ich die Perspektive wechseln.
Es gibt eine Schuld, die weit über persönliches Versagen hinausgeht, sondern die eingewoben ist in unsere sozialen und gesellschaftlichen Praktiken, unsere folgenschweren „blinden Flecken“. Der Philosoph Günter Anders hat dieses Versagen schon in den 50er Jahren benannt: (In meinen eigenen Worten)
Wir sind weder in unserer Fantasie noch in unserer Ethik unseren Produkten und den Folgen, mit denen sie die Welt überziehen, gewachsen. Günter Anders nannte das auch unsere Apokalypseblindheit und er kritisiert, dass wir als Gesellschaft zutiefst davon überzeugt sind, dass wir das, was wir können, auch tun sollen und sogar müssen. (Beispiel: die Atomkraft „muss“ zu friedlichen Zwecken erlaubt sein. Gentests, mit denen ungeborene Kinder mit Downsyndrom schon im Mutterleib diagnostiziert werden, „müssen“ angewandt werden dürfen.) Diesen unhinterfragbaren und gesellschaftlich verankerten Fehlhaltungen verdanken wir nicht nur die vielen Systemkrisen, um deren Beherrschbarkeit wir nun mühsam, und mit offenem Ende ringen. Sondern auch viel persönliches Leid.
Inzwischen haben etliche Institutionen Ethikräte eingerichtet, in denen anlassbezogen genau mit diesem Typus von „Fehlhaltungen der Moderne“ gerungen wird. Wir sind also einen kleinen Schritt weitergekommen.
Viele der großen Krisen der Gegenwart entstanden weit außerhalb unserer persönlichen Reichweiten, weil unser aller Einfluss auf Menschen und Institutionen, die mit großer Macht ausgestattet sind, sehr gering ist. Leider hat sich Versagen und Scheitern und auch die Schuld der Mächtigen, der Einflussträger, und der über Macht verfügenden Institutionen, in den letzten drei Jahrzehnten so intensiviert, dass eine Kanzelrede zum Bußtag darauf eingehen muss.
Ich denke an die betrügerischen Leitungsgremien und Leitungspersonen von deutschen Autokonzernen, die sekundiert werden von einer Politik, die sich weigert, gesundheitsbewahrende Rahmenbedingungen zu setzen. Ich denke an Behörden, die ihren Kontrollauftrag ignorieren. Ich denke an die mutwillige Zerstörung des erfolgreichsten Abrüstungsabkommens der Geschichte − des INF−Vertrages − durch Trump und die NATO, also auch durch Deutschland. Mit Entsetzen denke ich an die geplante deutsche militärische Aufrüstung von z.Zt. auch schon abenteuerlich hohen 44 Mrd. Militärausgaben im Jahr auf unvorstellbare 84 Mrd. jährlich ab 2024! Ich denke an die seit 40 Jahren erfolgreich betriebene Verhinderung des Klimaschutzes… Und uns allen stehen weitere Fehlentwicklungen mit ihren ganzen schrecklichen Auswirkungen vor Augen.
Ein Beispiel für Unternehmens− und Politikversagen möchte ich jetzt herausgreifen, und beziehe mich dabei auf den amerikanischen Umweltwissenschaftler Bill McKibben. Er hat die Forschungs− und PR−Politik der großen Mineralölgesellschaften in den letzten 40 Jahren analysiert. Und er weißt nach, dass schon 1977 hochrangige Wissenschaftler die Führer der großen Mineralölkonzerne darüber aufgeklärt haben, dass nur ein massiver Rückgang des Verbrauchs fossiler Brennstoffe eine Erderhitzung mit ihren katastrophalen Folgeereignissen abwehren kann. Aber: gleichzeitig senkt die Erderhitzung eben auch erheblich die Kosten für die Erschließung neuer Lager fossiler Brennstoffe. Denn wenn die Eispanzer der Erde wegschmelzen, wird das Öl− und Gasbohren in den arktischen Regionen richtig billig und die Profite sprudeln. Aus diesem schlichten Grund entschieden sich die großen Ölgesellschaften, die Erderhitzung nicht nur hinzunehmen, sondern sie zu forcieren.
Nachdem sich in den achtziger Jahren ein öffentliches Problembewusstsein herausgebildet hatte, gründeten die Erdölkonzernen dann gemeinsam ein Klimawandel−Leugnungs−Institut namens "Global Climate Coalition" GCC, Dieses versorgt nun seither die Öffentlichkeit mit Falschinformationen. Mittels gefälschter Daten wehrten die Ölgesellschaften eine drohende Brennstoffsteuer ab, sie behaupteten, die CO2−Zunahme würde den Hunger in der Welt beseitigen, sie organisierten die amerikanische Opposition gegen das Kyoto−Protokoll 1994, und schließlich auch gegen das Klimaabkommen von Paris von 2015. McKibben kommt zu dem traurigen Schluss: Zitat:
„Die Kampagnen der Konzerne haben uns um die Bemühungen einer ganzen Generation gebracht, die im Kampf gegen den Klimawandel vielleicht den Ausschlag gegeben hätten.“
In Anbetracht dieses absurden Ungleichgewichtes an Einfluss ist ein umweltbewusster Lebensstil auch von Vielen nur ein Tropfen auf den heißen Stein, und überhaupt nicht ausreichend, die Klimakatastrophe noch aufzuhalten.
Das ist bitter. Zeigt aber umso mehr, wie dringlich es ist, über einen nachhaltigen Lebensstil hinaus uns politisch für eine Umkehr einzusetzen.
Eine Frage brennt jetzt unter den Nägeln:
Wie kommt es eigentlich zu dieser organisierten Verantwortungslosigkeit? Wie entsteht sie? Was ist ihr Erfolgsgeheimnis?
Die Täterforschung an den Naziverbrechern hat sich genau diesen Fragen gewidmet. Sie hat untersucht, wie Unrechtspolitik, wie politische Verbrechen entstehen, und mit welchem Charakter, welchen Motiven die Täter ausgestattet waren. Dabei ist den Täterforschern etwas ins Auge gestochen: Die individuellen Absichten der Täter, der Entscheider, der Verantwortlichen, waren deutlich harmloser als die Destruktivität ihrer Handlungen. Es gab eine Kluft zwischen einer Art achtloser Neutralität oder durchschnittlicher schlechter Absicht und den katastrophal destruktiven realen Handlungsweisen.
Nur in Einzelfällen machen Menschen einen bösen „Masterplan“. Oft waren die Motive der Nazi−Täter eher banal und unbedeutend, und es überrascht, für welche Geringfügigkeiten Menschen bereit waren (und sind), Werte zu vergessen. Oft war ihr Motiv schlichte Gier, sich materielle Vorteile im Wettbewerb zu ergattern. Oder der Trieb, die soziale Leiter nach oben zu klimmen, oder sich ein Image der Größe und Einzigartigkeit zu geben. Diese Motive gehören − wie wir vorher gelernt haben − zum Schatten dazu, dieser versteckten Ansammlung von negativen Qualitäten in Menschen, für die wie gleichwohl verantwortlich sind. Diese Motive von Entscheidern und ihren Gehilfen tragen aber dazu bei, dass sich destruktive Projekte durchsetzen können. Sehr wirksam ist auch der Unwille, sich zu vergegenwärtigen, welche Folgen eine Entscheidung mit sich bringt, also Gleichgültigkeit. Die jüdische Philosophin Hanna Arendt hat für dieses Phänomen der eiskalten „Belanglosigkeit“ der Motive den Begriff von der „Banalität des Bösen“ geprägt. Hanna Arendt hat uns gezeigt: Der Ausgangspunkt und das Erfolgsgeheimnis des Destruktiven ist oft trivial und unbedeutend.
Eine wichtige Rolle für den Erfolg destruktiver Projekte spielt die Arbeitsteilung in Systemen. Der soziale Abstand der Entscheider von den Folgen lebensbeschädigender Entscheidungen lässt das Gefühl der Verantwortung verblassen. Ich finde es auch faszinierend, dass sich eine destruktive Absicht meist ihrer selbst schämt und die Lüge als Maske braucht, hinter der sie sich versteckt. Da wird für eine destruktive Absicht, z.B. die einseitige Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran, ein gutes Motiv vorgetäuscht: „Wir wollen einen besseren Deal!“, da werden negative Folgen beschönigt z.B. beim Dieselbetrug. Das Destruktive kann nach außen nicht für sich selbst stehen, sondern es nützt lügnerisch die Kraft des Guten, um sich dahinter zu verbergen.
Auch die ganz großen Fehlentwicklungen unserer Zeit gründen nicht nur in der Geld− und Machtgier der ganz Großen, sondern auch in den kleinen Korrumpierbarkeiten und in den banalen Denkfaulheiten, in Achtlosigkeit und in der Manipulierbarkeit der Vielen. Zu den gegenwärtigen großen Fehlentwicklungen gehören unsere privaten Konsumentscheidungen und unsere Alltagpraktiken mit dazu, und so dürfen wir uns alle davon ansprechen und betreffen lassen.
Dennoch: Als Menschen haben wir die Wahl:
Wenn wir Fehlverhalten oder Fehlentwicklungen im System oder bei Entscheidern wahrnehmen, können wir sie ¨bersehen, hinnehmen, und stillschweigen.
Damit haben wir es bequemer.
Oder wir können Fehlentwicklungen benennen, d.h. darauf hinweisen: wen wir dieses tun, dann hat es die und die Folgen. Dieses Benennen braucht unseren Mut. Aber es ist wirkungsvoll − denn, wie gesagt, das Destruktive schämt sich seiner selbst, und es will sich verbergen, es will nicht beachtet sein.
Wenn wir noch mehr tun möchten, können wir freundlich aber bestimmt erkennen lassen, dass wir bei etwas nicht so gerne mitmachen, dass wir da eine andere Haltung einnehmen wollen, dass wir eine Absicht und eine Entscheidung von ihren Folgen her bewerten wollen.
Dann werden wir als Einzelne sichtbar. Aus dem Herdenwesen Mensch wird ein Individuum mit einer Haltung. Das ist zunächst nicht leicht, und manchmal auch mit viel Unsicherheit und Herzklopfen verbunden. Aber die gute Nachricht ist: Die Angst verfliegt sofort, sowie wir beginnen zu sprechen. Dann passiert das Unerwartete: dass wir uns plötzlich ganz sicher fühlen. Dass uns plötzlich eine Kraft erfüllt, die uns einfach Halt gibt. Und wir können auf diese − jenseits des menschlichen wohnende Kraft − vertrauen. Sie flie&szig;t uns einfach zu. Diese Kraft wohnt dem Guten von Natur aus inne. Wir dürfen uns darauf verlassen.
Als Menschen haben wir die Wahl. Weil sich das Destruktive seiner schämt, können wir uns seinem Erfolg entgegenstellen, indem wir darüber sprechen. Und: wenn wir das wagen, bekommen wir etwas geschenkt.
Jede Gewissensentscheidung, die wir uns abringen können, ertüchtigt auf eine geheimnisvolle Weise unsere Persönlichkeit, sie stärkt unser Herz, sie festigt unsere ethische Substanz, sie nährt unsere Integrität und letztlich auch unsere Autorität.
Bußtag ist der Tag der Selbstbesinnung und der möglichen Umkehr.
Umkehr wohin?
Die Richtung ist: Eine andere Welt ist möglich. Eine Welt, in der unser egoistisches Ich von seinem Thron herabsteigt und einem solidarischen Bezogen sein auf die Mitmenschen und einem liebevollen Mit−Sorgen um unsere Mitgeschöpfe und die natürliche Welt den Platz freimacht.
In vielen Bewegungen der Gegenwart tasten Menschen nach diesem ganz Neuen: in der Friedens− und Ökologiebewegung, in den Solidaritätsbewegungen für die Armen, und Ausgeschlossenen und für Flüchtlinge, im Natur−, Tier− und Artenschutz, in der Anti−Atom und den Erneuerbare−Energien−Bewegungen, in der Jugendbewegung Fridays for Future, und vielen anderen.
Durch diese Bewegungen wandelt sich die Welt: Das Streben nach Lebensstandard und Konsum wird mit leichter Hand ersetzt durch die leidenschaftliche Suche nach Sinnerfüllung. Die schmerzliche Entfremdung von der Natur, von den Mitmenschen und von der eigenen, persönlichen Innerlichkeit wird durch ein neues Verbundensein allmählich aufgelöst, einem Verbundensein mit anderen Menschen, mit der natürlichen Welt, mit uns selbst und mit einer spirituellen, geistigen Wirklichkeit. Der grassierende Egoismus verwandelt sich immer mehr in rücksicht−nehmende Verantwortung für alles Leben. Und das geistige Verdorren durch den einseitigen Materialismus weicht der Erfahrung, dass nicht nur das Sichtbare wirklich ist. Sondern dass wir immer aufs Neue inspiriert sind durch die Impulse eines unsichtbaren Großen Anderen. So wandelt sich eigentlich nicht nur die Welt, sondern auch wir Menschen verändern uns zum Guten.
Noch einmal: Umkehr wohin?
In der Offenbarung des Johannes Kap. 21 steht eine Vision:
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Er/Sie selbst wird bei ihnen wohnen, und wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Verzweiflung noch Schmerz werden mehr sein, denn das Alte ist vergangen. Und siehe ich mache alles neu
Das ist eine Vision und eine Verheißung: Wenn Gott/ Göttin/das Große Andere einen Raum bei uns hat, das heißt auch: einen Raum in uns hat, aus dem heraus es uns fortwährend zu unserem Ringen um das Gute inspiriert, stärkt, segnet, − dann, ja dann ist eine andere Welt möglich.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.