Evangelische
Kirchengemeinde
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Spielend ins gelobte Land? Spiel im Horizont des Glaubens.
Vortrag bei der Herbsttagung württembergischer Vikare und Vikarinnen, Bad Boll 2002

von Thomas Erne

1. Einleitende Gedanken zum Thema

  1. 1. Spannung am Zaun

An einem strahlenden Samstagmorgen sitzt

Tom Sawyer (*1)
vor Tante Pollys Haus. Der Sommer summt, der Vormittag macht überhaupt nicht müde (Rilke). Im Gegenteil: der Fluss ruft, die Welt ist voller Verheißungen. Nur nicht für Tom. Für ihn ist die Welt nichts als harte Arbeit, denn er sitzt vor einem endlosen Zaun, angekettet wie Prometheus an seinen Felsen. Diesmal hat seine Tante Polly triumphiert. Diesmal halfen keine Ausreden, keine Tricks. Nur wenn der ganze Zaun gestrichen ist, kann Tom erlöst werden. Da naht der erste Freund auf dem Weg zum Fluss. Aber nicht irgendwie, sondern er kommt ins aufregende Spiel vertieft als Personifikation eines Mississipi−Schaufelraddampfers. Ling−aling−ling! Stop her, Sir! Chow−ch−chow−chow. Stop her. Down with the engines. Stand by that stage now. Ling−a−ling−a−ling.; Der Gegensatz könnte nicht größer sein. Hier die Knechtschaft der Arbeit, dort die Freiheit des Spiels. Und wo die Not am größten, lässt der Spott nicht auf sich warten. Tödlich langweilig? fragt der Freund. In diesem Augenblick hat Tom eine Eingebung, die Idee, die ihn rettet. Er reagiert überhaupt nicht. Konzentriert führt er den Pinsel in den Eimer, streicht langsam und hingebungsvoll an der ersten Zaunlatte. Der Freund fragt noch einmal: Hat dich Tante Polly doch noch drangekriegt? Da erwacht Tom wie aus einem tiefen Schlaf Oh, ich habe dich überhaupt nicht bemerkt! − Ich geh schwimmen, habe ich gesagt, aber du kannst ja wohl nicht mit, du musst arbeiten − Arbeit, welche Arbeit? erwidert Tom. Was? Ist das etwa keine Arbeit diesen endlose langen Zaun zu streichen? fragt der Freund. Mag sein oder auch nicht. Ich weiß nur, dass es Tom Sawyer erfüllt (All I know is, it suits Tom Sawyer) − Hör auf! Du willst mir doch nicht weiß machen, dass es dir gefällt. Der Pinsel streicht langsam und hingebungsvoll weiter.
Gefällt? Warum sollte es mir nicht gefallen. Schließlich hat ein Junge nicht jeden Tag die Gelegenheit einen ganzen Zaun zu streichen.; Das wirft ein völlig neues Licht auf die Angelegenheit. Der Freund wird neugierig. „Lass mich mal“, bittet er Tom. „Tut leid, Ben. Ich will dich ja nicht beleidigen, aber es geht nicht,“ sagt Tom, „die Verantwortung ist zu groß. Tante Polly lässt doch nicht jeden an ihren Zaun.“ Da ist der Freund gefangen. Er bittet und bettelt. Er ist bereit alle seine Schätze zu geben für das Vergnügen den Zaun zu streichen. Schließlich gibt ihm Tom den Pinsel weiter mit Zögern im Gesicht und großer Bereitwilligkeit im Herzen ("reluctance in his face, but alacrity in his heart").
Und nicht nur Ben. Eine ganze Stafette von Freunden gibt er den Pinsel weiter. Selig und beglückt sind sie alle über die Größe und Bedeutung der Aufgabe, die sie an diesem Morgen an Tante Pollys Zaun gemeistert haben. Währenddessen lagert sich Tom im paradiesischen Schatten eines nahegelegenen Baumes, spielt vergnügt und selbstvergessen ("idle time") mit den Schätzen, die ihm seine Freunde dafür bezahlten, dass er sie am Zaun hatte arbeiten lassen.

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(*1) Mark Twain, The Adventures of Tom Saywer, 1876/1986, Chapter II.


  1.2. Protestantismus: Arbeit oder Spiel?
Ich erzähle ihnen diese Szene aus den Abenteuern des Tom Sawyer, der ein Held meiner Jugend war, um einem Staunen auf den Grund zu kommen, das mich anlässlich der Themenstellung dieser Herbsttagung württembergischer Vikare und Vikarinnen befällt.
Spiel (*2)
und Humor sind ja alles andere als zentrale Kategorien protestantischer Theologie. Kulturell wirksam wurde der Protestantismus nicht aufgrund seiner spielerischen Leichtigkeit, sondern aufgrund seines Arbeitsethos. Ein besonders suggestives Beispiel bietet das Bild "Der schmale und der breite Weg". Die Stationen des schmalen Wegs sind Taten der Liebe, regelmäßiger Gottesdienstbesuch, Gebet, Studium der Hl. Schrift etc., und sie enden im Paradies. Der breite Weg dagegen führt über das Kartenspiel im Gasthaus, das Liebesspiel im Freudenhaus und das Rollenspiel im Theater direkt in die Hölle. Es gibt eine christlichen Rezeption der platonischen Gegenüberstellung von heiligem Ernst und kindlichem Spiel, die nicht nur im Pietismus, sondern auch bei Tertullian, Pascal und
Sören Kierkegaard (*3)
zur schroffen Ablehnung des Spiels im Bereich der Religion führten.
Zu den Ausnahmen gehören zwei Theologen, die sonst durch keinerlei theologischen Leichtsinns aufgefallen sind, nämlich Wolfhart Pannenberg und Karl Barth. Barth würdigt das Spiel im Rahmen seiner Ethik und seiner Schöpfungslehre. Dabei kommt Barth auf die zentrale Stelle im alten Testament, Sp 8, 30, zu sprechen, wo die Weisheit zu Füßen Gottes spielt. Barth interpretiert die Schöpfung als Spielraum, in dessen von Gott gesetzten Grenzen der Mensch "seinen eigenen Weg und Lauf haben darf", und in dem
"zwar immer zuerst der Schöpfer, aber dann immer auch das Geschöpf zu seinem Zuge kommt."(*4)
Und für Wolfhart Pannenberg ist Spiel ein Zentralbegriff seiner Anthropologie und das Symbolspiel des Kindes grundlegend für die Entwicklung menschlicher Identität. "Schöpfung als Spielraum" und "Spiel mit Symbolen", das sind zwei Hinweise auf die Bedeutung des Spiels für die Theologie, auf die ich noch zurückkommen werde.

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(*2) Zur theologischen Bedeutung des Spiels äußern sich: Karl Barth, KD III/3, 98, außerdem: Ethik II, 1928, 437ff; Protestantische Theologie, 1947, 52f.; Wolfgang Amadeus Mozart, Zürich 1956. Zu Barths Deutung des Spiels in der Musik Mozart vgl. T. Erne; Barth und Mozart, ZDT 2/1986, 234−248. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. Die Grundlagen der Kultur. Freiheit im Spiel, Göttingen 1983, 312ff.; zu Piaget a.a.O. 336ff. Außerdem von systematisch−theologischer Seite: J. Moltmann, Die Freigelassenen der Schöpfung. Versuch über die Freude an der Freiheit und das Wohlgefallen am Spiel, München 1975. Praktisch−theologisch einschlägig ist Gerhard Marcel Martin, Fest und Alltag. Hausteine zu einer Theorie des Festes, Stuttgart 1973; Playing arts und Spiritualität (unveröffentlicht). K. − H. Bieritz, Freiheit im Spiel BThZ 10, 1993, 164−174; Spielraum Gottesdienst Von der "Inszenierung des Evangeliums" auf der liturgischen Bühne, in: A. Schilson/J. Hake (Hrsg.) Drama "Gottesdienst", 1998. Einen Überblick gibt S. Wolf−Withöft, ART Spiel III, TRE 31, 2000, 670−686.

(*3) Vgl. W. Janke, Artikel Spiel I, TRE 31, 673. Zu den philosophischen Hintergründen vgl. außerdem A. Corbineau−Hoffmann Art Spiel, HWP 9, 1995, 1383−1390. Kritik des ästhetischen Spiels angesichts eines radikalen religiösen Ernstes beschreibt für Kierkegaard den Weg ins Christentum, nicht aber das Leben der Erlösten. Es könnte als Kehrseite des Sprungs ins christologische Paradox gerade im Humor das Kennzeichen christlicher Freiheit liegen, vgl. dazu M. Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, Freiburg 1982; zur Frage des Humors, vgl. H. Deuser, Die Frage nach dem Glück in Kierkegaards Stadienlehre, in: P. Engelhardt (Hg.), Glück und geglücktes Leben. Philosophische und theologische Untersuchungen zur Bestimmung des Lebensziels, Mainz, 1985, 165−183.

(*4) Karl Barth, KD III/3, 98.

  1.3. Theologiegeschichtlicher Index des Themas
Was also hat, angesichts der Marginalität, ja Reserve der Theologie gegenüber dem Spielbegriff, das Thema dieser Tagung zu bedeuten? An welchem Punkt der Entwicklung des Protestantismus bricht ein solches Interesse auf? Welchen theologiegeschichtlichen Index trägt das Bedürfnis, spielend ins gelobte Land zu gelangen? Das ist mein erster Punkt, den ich mit Hilfe von Tom Sawyer ein wenig klären möchte. In einem zweiten Abschnitt betrachte ich Spiel in schöpfungstheologischer Hinsicht und in einem dritten Teil in christologisch−pneumatologischer Perspektive.
Nach meinem Eindruck ähnelt die Situation der Theologie und die des Theologen am Ende einer ehrwürdigen 2000−jährigen christlichen Tradition der Tom Sawyers. Aber nicht wie er unter dem Baum sitzt, sondern am Zaun. Denn was die Theologen zu inszenieren haben ist die alt− und farblos gewordene Idee des Christentums.
„Der Himmel über der liturgischen Szene wird blass, verliert an Farbe“ (*5).
Und zwar nicht, weil die einst geläufigen Bühnenbilder nicht mehr bekannt sind, sondern sie sind schlicht langweilig geworden. Eine Idee, in deren Zentrum ein Gott steht, der scheinbar
„unabänderlich der Gleiche bleibt“ (*6)
und der sich ein für alle Mal in seiner endgültigen Wahrheit bestimmt und identifiziert hat, lässt wenig Spielraum für überraschend Neues.
Da steht es anders um die weltlichen Zeitgenossen, die des Weges kommen, vertieft in aufregendere Spiele. Der Mississipi−Dampfer steht heute im Kino, auf dem Theater, in der Kunst und im Fernsehen. Dort werden die großen Geschichten erzählt, so, dass sie die Menschen überraschen und verwandeln. Dort gelingt in selten Augenblicken, dass sogar die Geschichten, die eigentlich ins Repertoire der Theologen gehört, auf eine spannende, lebensnahe Weise zur Aufführung kommen.
In dieser Situation legt es sich nahe von Tom Sawyer lernen zu wollen. Was ist denn seine Eingebung, die es ihm möglich macht, seine Freunde aus den aufregenden Spielen, mit denen sie beschäftigt sind, herauszulocken an den endlos langweiligen Zaun? Es ist die Einsicht, dass etwas, wenn es so bestimmt erscheint wie der endlose Zaun − nichts als streichen, streichen, streichen − nur dann attraktiv wird, wenn an ihm etwas bisher Unentdecktes entdeckt wird: Eine ungeheure Verantwortung, eine bedeutende Aufgabe, eine seltene Gelegenheit. Und dazu muss die Bestimmtheit des Zauns − „nichts als streichen“ − wieder unbestimmt, gleichsam konjunktivisch werden: „Könnte nicht doch mehr dahinter sein als nur streichen?“ − „Unbestimmtheit,“ so sagt der Philosoph Hans Blumenberg,
„ist vielleicht die letzte Chance einer Idee, Macht über die Geister zu behalten“ (*7).
Und so könnte man auch vom Christentum sagen, dass sein ideeller Gehalt nur dann Macht über die modernen Geister behalten kann, wenn es gelingt das scheinbar unabänderlich Gleiche seines Gottesgedankens im Spielraum unentdeckter Möglichkeiten zu sehen.
Aber Tom Sawyer spielt ja ein doppeltes Spiel. Auch darin gleicht er vielen Theologen. Er glaubt ja nicht wirklich, dass an seinem Zaun Neues zu entdecken ist. Er tut nur so und schielt dabei auf das wahre, das offene, von unabänderlichen Ideen freie Spiel unter dem Baum. Auch viele Theologen glauben nicht wirklich, dass der Idee des Christentums noch Neues zu entlocken ist. Sie tun nur so und drapieren den farblos gewordenen Gehalt mit modischen Anstrichen in der Hoffnung, es könnte jemand verführt werden, mehr darin zu sehen als tatsächlich zu sehen ist. Und manche schielen gar wie Tom Sawyer auf den Platz unter dem Baum, wo sie die Last der christlichen Tradition hinter sich lassen, um endlich selbstvergessen im offenen Raum zu spielen.
Es könnte aber doch sein, dass Tom Sawyer nicht sein Freunde, sondern sich selbst betrogen hat. Und die Freunde am Zaun tatsächlich etwas erlebt haben, was ihm als Betrug erschien, dass nämlich das scheinbar „unabänderlich Gleiche“ des christlichen Gottesgedankes zu riskanten Fortschreibungen fähig ist und zwar nicht aus Gründen einer äußerlichen Attraktivität, sondern wesentlich und aus inneren Motiven. Kann der Glaube also nicht nur spielen, sondern muss er spielen, mit sich, mit seiner Tradition, mit seinen Formen und Formeln, um in Geschichte und Gegenwart Glaube zu bleiben?

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(*5) Karl−Heinrich Bieritz, Spielraum Gottesdienst. Von der „Inszenierung des Evangeliums“ auf der liturgischen Bühne, # in: A. Schilson/J. Hake (Hrsg.) Drama "Gottesdienst", 1998, 73.

(*6) Paul Oestreicher, Gottesdienst: Alles Theater? in: Publik-Forum 2001/1, 29.

(*7) Hans Blumenberg, Matthäuspassion, 1988, 289.


2. Mehrfachthematisierungen: Spiel in der Schöpfung

2.1. Der (freie) Spielraum
Eine erste, schöpfungstheologische Annäherung an die Bedeutung des Spiels für den Glauben bietet mir das Stichwort Karl Barths von der
"Schöpfung als Spielraum des Lebens" (*8).
Barth selber nimmt die Spielmetapher wörtlich, wenn er davon spricht, dass in der Schöpfung zwar immer der Schöpfer zuerst, aber dann auch das Geschöpf in seinem
"eigenen Weg und Lauf zum Zuge kommt" (*9).
Um aber zum Zuge und ins Spiel zu kommen, und zwar nicht in irgendetwas Fremdem, sondern im Eigenen, bedarf es gewisser Vorgaben. Kein Spiel kann beginnen ohne Rahmen, ohne eine Bühne, auf der nur dann gespielt werden kann, wenn mit ihr selbst nicht gespielt werden muss. Zwar ist im Spiel alles möglich, aber nur wenn nicht alles zugleich auf dem Spiel steht. In diesem Sinn leistet Schöpfung als Raum die elementare Abwehr eines namelosen Chaos, in dem kein Spiel mehr möglich wäre.

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(*8) Der Titel "Schöpfung" ist für diesen Sachverhalt eines "Spielraumes der Möglichkeiten" nicht exklusiv, sondern eine bestimmte Weise der Hinsichtnahme. Ohne Rückgriff auf religiöse Terminologie vgl. B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 21994, 87 "Unser Verhalten bewegt sich stets in einem gewissen Spielraum." Waldenfels charakterisiert diesen Spielraum als Zusammenspiel von Regel und Regellosigkeit, Ordnung und Unordnung. Er ist begrenzt, aber nicht invariant, sondern in "gradueller Offenheit". Zum Begriff vgl. S. K. Knebel, Art Spielraum, HWP 9, 1995, 1390-1392. Trillhaas kennt in seiner Ethik den "freien Raum", der weder "vom Gesetz in der Form des Gebotes noch vom Gesetz in der Form des Verbotes beschattet ist." Ausdrücklich ist dieser [ethik-] freie Raum der Ort der "künstlerischen Schöpfung." Die Ethik folgt den ästhetischen Handlungen im freien Raum allerdings "unweigerlich nach" und "prüft, ob der Mensch bei seinem Handeln in den menschlichen Maßen geblieben ist." W. Trillhaas, Ethik, 31970, 82-85.

(*9) Karl Barth, KD III/3, 98.


2.2. Welt der Namen: Die elementare Abwehr des Chaos
Inbegriff dieser elementaren Abwehr ist der Paradiesgarten in der Schöpfungsgeschichte und zwar nicht als Ort der Arbeit, der Kultivierung der rohen Natur, ("Gott brachte den Menschen in den Garten Eden. Er übertrug ihm die Aufgabe, den Garten zu pflegen und zu schützen", Gen 2, 15), sondern als Ort, an dem alles seinen Namen hat, also das Paradies in Gen 2, 19-20: "Dann brachte er [Gott] sie [die Tiere] zu dem Menschen, um zu sehen, wie er jedes Einzelne nennen würde; denn so sollten sie heißen. Der Mensch gab dem Vieh, den wilden Tieren und den Vögeln ihre Namen."
In diese Welt der Namen, der vertrauten Differenzen, werden wir hineingeboren. Sie ist Schöpfung in dem Sinn, dass wir für diese Welt elementarer Festlegungen, ohne die wir nicht leben könnten, nicht aufkommen können, und auch nicht aufkommen müssen. So wie die Sprache vor unserem Sprechen ist, so finden wir uns vor in einer Welt voller Regeln, Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen, die da sind, bevor wir sind. Sie helfen uns, dass wir uns im Leben orientieren. Und wir passen uns ihren Ordnungen an, nicht aufgrund bewusster Entscheidung, sondern aufgrund von Gewöhnung, aufgrund von mimetischen Prozessen, von learning by doing.

2.3. Akkommodation oder Assimilation
Die Aufgabe eines bewussten Lebens - und damit beginnt eigentliche erst das Spiel - könnte man nun so beschreiben, dass wir uns eine eigene Welt schaffen müssen, obwohl schon eine Welt besteht - wir uns also nicht nur den vorhandenen Strukturen anpassen, sondern sie in einem kreativen Akt der individuellen Welterschaffung aneignen.
Oder um eine Unterscheidung Piagets zu benutzen, die durch
Gerhard Marcel Martin (*10)
Eingang in die theologische Analyse des Spiels gefunden hat: Das Spiel beginnt damit, dass wir uns nicht nur den Schemata der vorgegebenen Weltvertrautheit akkommodieren, sondern diese assimilieren. Während Akkommodation sich dem Vorhandenen anpasst, versucht die Assimilation das Vorhandene sich zu eigen zu machen und zwar, indem sie das Vorhandene im Horizont seiner Möglichkeiten neu und anders sehen lernt. Denn nur im Horizont der Möglichkeiten besteht die Chance, dass das Gegebene mehr ist als eine Vorgabe und es zu meinem Eigenen werden kann, ich darin "auf meinem Weg und Lauf" - und nicht auf den Wegen, die andere vor mir gegangen sind - "zum Zuge komme".
Dazu aber muss etwas von dem, was im Bild des Paradiesgartens ausgegrenzt wurde, das Chaos, die nackte, differenzlose Unmittelbarkeit, die namenloses Angst, das Tohuwabohu - was soviel bedeutet wie:
gähnender Abgrund, Finsternis, Leere im Sinn von Gestaltlosigkeit (*11)
- wieder zugelassen werden. Gleichsam als Kehr- und Schattenseite der Welt als Schöpfung ist das Chaos in dieser beständig mitpräsent. Das ist übrigens nach Freud der Grund für ein untilgbares
"Unbehagen in der Kultur"(*12).

Der Weg ins Eigene führt nur über das Chaos. Die chaotische, ungestaltete Unbestimmtheit ist das schöpferische Medium des Spiels wie der Kunst. Die positive Bedeutung des Chaos, ein Wärmepol des Noch-Nicht-Gestalteten, betont ein Künstler wie
Joseph Beuys (*13).
Chaos ist die Negation des Vorhandenen, die
Entleerung des Raumes (*14)
von Vorhandenem, so dass überhaupt etwas Neues entstehen kann. Aber es ist nicht das Tohuwabohu, nicht das Chaos der namenlosen Unbestimmtheit, das wieder zugelassen werden muß. Es würde in seiner schockartigen Wucht jede bewusste Lebensführung überfordern. Es ist die durch den Spielraum, durch die Bühne,
begrenzte und bestimmte Unbestimmtheit (*15).
Indem manches auf dieser Bühne auf sich beruhen kann und darf, eröffnet sie die Freiheit, vieles spielerisch zu verändern und zu verwandeln.

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(*10) Vgl. Gerhard Marcel Martin, Spiel, in: Das Eigene entfalten. Anregungen zur ästhetischen Bildung, Gelnhausen 22000, 122. Ebenfalls auf Piaget bezieht sich W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 336ff.

(*11) Vgl. Claus Westermann, Genesis 1-11, BK Bd.1, Neukirchen-Vluyn 1983, 143f.

(*12) S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930/1978.

(*13) J.Beuys unterscheidet nicht zwischen gutartigem und gefährlichem Chaos. Chaos ist für ihn generell Unbestimmtheit und darin der "Wärmepol"(!), aus dem alle Bestimmtheit (Kältepol) herkommt. Kreativität besteht für Beuys aus Unbestimmtheit Bestimmtheit werden zu lassen, die Kälte zur Form erstarren zu lassen und darin Freiheit zu realisieren. Plastik ist für Beuys der Ausdruck für das Wechselspiel dieser Pole vgl. Harlan/Rappmann/Schata, Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, 31984, 58f.

(*14) vgl. "Empty Space" 3. 3.

(*15) Zum Unterschied von unbestimmter (leerem, namenlosen Chaos) und bestimmter Unbestimmtheit (gutartigem, begrenztem Chaos), vgl. M. Moxter, Ungenauigkeit und Variation, 1999, 196; außerdem Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 367, 381, 385.


2.4. Spielraum als Mitgegebenes, nicht Vorgegebenes
Welt als Schöpfung, als Spielraum des Lebens zu interpretieren, bedeutet nun nicht zwingend - und damit komme ich auf die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis des unabänderlichen Gleichen des Glaubens und seiner spielerischen Verwandlung zu sprechen - die Vorgabe der Schöpfung, im Sinn der von Gott gesetzten Grenzen menschlicher Freiheit, als eine feststehende Schöpfungsordnung zu verstehen. Denn das, was wir voraussetzen können und müssen, um überhaupt zu spielen, ist seinerseits bedingt und abhängig von dem, was im Spiel ist.
Dass es Vorgaben des Spiels gibt, die nicht ihrerseits Gegenstand des Spielens werden können, besagt nur, dass es in jedem Spiel einen blinden Fleck gibt. Zwar ist im Spiel prinzipiell alles möglich, aber eben nicht alles auf einmal. Ich kann selbst den Spielraum und seine elementare Unterscheidung von Innen und Außen zum Gegenstand des Spiels machen und spielerisch die Grenzen von Innen und Außen auflösen. Aber selbst dann nehme ich etwas in Anspruch, das nicht im Spiel ist, sondern mein Spiel im Hintergrund begleitet, etwa, dass überhaupt etwas ist und vielmehr nicht Nichts. So wie in einem Gespräch nicht beliebig viele Rückfragen gestellt werden können, obschon im Prinzip alles hinterfragt werden kann, ist auch das Spiel begrenzt durch endliche Ressourcen, etwa durch die Ökonomie unseres Umgangs mit der Zeit.
In diesem Sinn ist Schöpfung als Spielraum des Lebens nicht ein unabänderlich Vorgegebenes, sondern ein beständig Mitgegebenes. Eine Art Rückendeckung des Spiels, die sich in Abhängigkeit von dem, was gerade im Spiel ist,
verschiebt und verändert (*16).


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(*16) Auf diesen Unterschied macht M. Moxter aufmerksam "Die Lebenswelt als Universum vorgegebener (!) Selbstverständlichkeiten ist nicht nur Ausgangspunkt, der verlassen werden soll, sondern auch ein Mitgegebenes, auf das wir beständig rekurrieren." M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000, 282. Die [lutherische?] These einer unabänderlichen Schöpfungsordnung würde auch Waldenfels nicht als invariante Regeln interpretieren, sondern nur als Hinweis, "dass die Möglichkeit konkreter Sinnbildung eingeschränkten Bedingungen unterliegt, die deren Spielraum eingrenzen," B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 21994, 26.


2.5. Selbsttranszendenz und Sinnunerschöpflichkeit des Lebens
Aber warum müssen wir überhaupt spielen, in diesem Raum von Mitgegebenem, der einer Interpretation als Schöpfung zugänglich ist? Können wir nicht die Erfüllung der menschlichen Existenz darin sehen, dass wir uns nahtlos einpassen in die bewährten Ordnungen dieser Welt? Können wir uns nicht damit begnügen, die guten Gebote Gottes zu befolgen und in uns die allgemeinen Merkmale der menschlichen Gattung ausbilden? Warum überhaupt
"das Eigene entfalten" (*17)
und nicht im Gegebenen aufgehen?
Das Motiv zum Spielen, es nicht bei der Akkommodation in vorgegebene Lebensformen zu belassen, hat mit dem zu tun, was
Paul Tillich (*18)
"die Selbsttranszendenz des menschlichen Lebens" bezeichnet hat. Der Grund für dieses Selbsttranszendenz liegt nach Tillich in der
"Unerschöpflichkeit" (*19)
von Sinn, also darin, dass keine der Formen, in denen wir leben, den ganzen Sinn vollständig zur Darstellung bringen kann. Es gibt in allen Lebensformen der menschlichen Kultur
"ein Reservoir des Rohen, Ungeformten, Unreifen" (*20).
Einen unausgeschöpften Sinn, das Noch-Nicht-Gesagte im Gesagten, aus der sich der Antrieb zu spielen nährt. Gelänge es dieses Reservoir an ausstehenden Sinn zu erschöpfen, dann allerdings wäre das Spiel aus. Aber solange die Möglichkeiten über die Wirklichkeit hinausschießen, stehen alle Lebensformen in der Spannung von "schon jetzt" und "noch nicht". Es sind feste Formen, in die wir hineinwachsen, und die wir brauchen, um uns im Leben zurecht zu finden. Und es sind feste Formen, mit denen wir zugleich beständig spielen, sie variieren, verwandeln und überschreiten müssen, um in ihnen nicht das Gefühl zu haben zu erstarren.

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(*17) Vgl. C. Riemer/B. Sturzenhecker (Hg.), Das Eigene entfalten. Anregungen zur ästhetischen Bildung, Band 5, Beiträge aus der Arbeit des Burckhardthauses, Gelnhausen 22000.

(*18) Diesen Hinweis auf Tillich gibt Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt, Tübingen 2000, 397.

(*19) P. Tillich, Main Works 2, 1989, 104; vgl. dazu, M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000, 89-92.

(*20) B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 21994, 93


2.6. Spiel mit Lebensformen
Diese Doppeldeutigkeit - einerseits brauchen wir feste Formen um zu leben und andererseits müssen wir sie spielerisch variieren und überschreiten, um in ihnen lebendig zu bleiben - betrifft nun alle Rituale unseres Alltags, die Formen der Höflichkeit, die Liturgien des Aufstehen und Ins-Bett-Gehen, die Formen des gemeinsame Essen, die einspielten Routinen zwischen Paaren, die Verkehrsformen in der Öffentlichkeit. Diese Doppeldeutigkeit betrifft auch die hervorgehobenen religiösen Rituale, etwa die Liturgie des Gottesdienstes. Auch die Liturgie des Gottesdienst ist einerseits, wie Manfred Josuttis sagt, der
"Weg in das Leben" (*21)
,der durch die Wiederkehr fester Formen vor einem Übermaß an Neuem und Fremden schützt. Aber wie der Zaun bei Tom Sawyer kann der Gottesdienst auch eine Sackgasse sein, in der das Leben erstarrt und seine kreativen Impulse versanden.
Für die Rituale des Alltags wie das des Sonntags kommt deshalb alles darauf an mit ihnen auch zu spielen und das heißt: das Gegebene gänzlich hinter sich zu lassen, um es aus den noch unentdeckten Möglichkeiten heraus neu zu erfinden. Das kann, wie beim Beispiel des Zauns, zu nichts anderem führen als der gleichen Handlung wie sie Tom Sawyer als endlos langweilig empfand. Und doch ist das Ergebnis ganz anders, weil das Gleiche in einem gänzlich anderen Licht erscheint.
Dass es sich also um einen
"Fortschritt im Selben" (*22)
handelt und das Ergebnis der spielerischen Neuschöpfung zu denselben Formen führen kann, die den Gottesdienst traditionellerweise ausmachen - also nicht notwendig zu liturgischen Experimenten - darf die Dramatik dieses Vorgangs der Transzendierung von Lebensformen im Spiel nicht verdecken. Man muss bereit sein, alles aufs Spiele zu setzen, um das Gleiche noch einmal und als das Eigene sagen zu können. So wie jeder Schauspieler sich ganz an seine Rolle entäußert und doch einmalig ist, so dass kein Faust dem anderen gleicht und
"jeder Hamlet ein neuer Hamlet" (*23)
ist, so muss der Liturg sich ganz in die Form des Gottesdienst hineinbegeben und sie zugleich inszenieren, als ob er sie in diesem Moment ganz als sein Eigenes erfindet. Gespielt wird so jeden Sonntag dasselbe Stück, aber wenn es gut gespielt wird, ist es jedes Mal anders und besonders - und der Liturg weiß am Anfang nicht, wie es am Ende ausgehen wird.
Die Bewegung die dabei im Spiel entsteht, ist die einer immanenten Transzendenz.
Sie bricht nicht von einem Punkt ober- oder außerhalb in die Endlichkeit ein, noch bricht sie ohne weiteres in den erstarten Formen des Lebens einfach von selber auf. (*24)
Die transzendierende Bewegung des Spiels bedarf vielmehr einer gewissen Bereitschaft und Übung, sich auf riskante Prozesse der Veränderung und Verwandlung einzulassen, also sich zu entäußeren und darin das Eigene zu entdecken. Eine Haltung die gewisse Ähnlichkeiten zu kontemplativen Gebetsübungen hat, zu der aber auch die Spielmodelle von "playing arts" anregen und anleiten.

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(*21) Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991.

(*22) Vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000, 405

(*23) P. Oestreicher, Gottesdienst: Alles Theater? In: Public-Forum 2001/1, 29.

(*24) Vgl. T. Erne, Rhetorik und Religion, 2002, 56.


2.7. Gesetz und das Spiel des Evangeliums
Auf diese Bewegung einer immanenten Transzendenz, in der Lebensformen eingegangen und zugleich überschritten werden, möchte ich zum Abschluss dieses ersten schöpfungstheologischen Anfahrt, versuchsweise und spielerisch, die Kategorie von Gesetze und Evangelium beziehen.
Gesetz wäre dann ein Ausweichen vor der Bewegung des Spiels, welche die Bewegung des Lebens selbst ist, nämlich die seiner Selbsttranszendenz. Ein Ausweichen und eine Abwehr der Bewegung des Lebens in zweierlei Hinsicht: zum einen, in einem Festhalten und Beharren auf einmal erreichten vertrauten Formen - für diesen Konservativismus gibt es im Bereich der Kirche unzählige Beispiele - aber auch eine Flucht vor Festlegungen, einem Eskapismus der Transzendenz, der das Konkrete im eigenen Leben scheut.
Und Evangelium wäre nicht nur die Bewegung ins Offene, ohne die Angst ins bodenlose abzustürzen, die Freiheit sich spielerisch im Raum der Möglichkeiten zu bewegen und die erstarten Formen des Lebens zu verwandeln, sondern auch der konkrete Ausdruck, also am Zaun zu bleiben und nicht unter den Baum zu fliehen, und
in den konkreten Formen des Alltags diese Freiheit zu leben und zu bewahren.


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(*25) Zwar kann die Arbeit nicht zum Spiel werden, wohl aber kann es Spiel geben "in der Arbeit und nicht jenseits der Arbeit" (J. Moltmann, Die ersten freigelassenen der Schöpfung, 1975, 59f.). Der Mensch kann das Bewusstsein der Freiheit in der Notwendigkeit entwickeln. Dass sich der Mensch in "seiner Tätigkeit frei fühlen kann", muss aber nicht darin begründet liegen, dass "die Tätigkeit und ihr Gegenstand als Manifestation eines in sich selbst begründeten und dem Dasein des Menschen seinen Inhalt gebenden Zweck erscheinen" (W. Pannenberg, Anthropologie, 1983, 325). Fraglich ist Pannenbergs Rekurs auf eine (religiös begründete) Ordnung aller Dinge und in sich vollendete Sinnwelt, die in der Arbeit spielerisch evoziert und im Fest rein zu Darstellung kommt und gefeiert wird (vgl. a.a.O. 327).


3. Mehrfachthematisierungen: Spiel, christologisch-pneumatologisch

3.1 Spiel mit religiösen Symbolen
Eine zweite, christologische Anfahrt auf das Thema Spiel im Horizont des Glaubens bietet das Stichwort "Spiel mit Symbolen" von Wolfhart Pannenberg. Während es im schöpfungstheologischen Teil um das notwendige Spiel mit Lebensformen und den Ritualen des Alltags wie des Sonntags ging, möchte ich im zweiten Teil der Frage nachgehen, ob es auch ein Spiel mit den religiösen Symbolen und Metaphern selber gibt und geben muss. Ein Spiel also am Ort der Predigtarbeit, und zwar nicht nur aus äußerlichen Gründen, weil für uns "der Himmel über der liturgischen Szene, aber auch über den biblischen Texten blass geworden ist", sondern weil die inneren Struktur des christlichen Gottesgedanken zum Spielen anleitet.

3.2. Bestimmtheit des Heils und das Heil der Unbestimmtheit
Das Neue Testament lässt keinen Zweifel daran, dass Gott sich in Christus in aller Klarheit und Bestimmtheit ein für allemal offenbart hat. Wenn im christlichen Sinne eine Antwort gegeben wird, wer und was Gott für uns ist, dann wird sie im Blick auf Jesus Christus gegeben. Er ist das Heilsereignis. In ihm ist die Fülle des Heils.
Wer diese Botschaft weitersagen will, hat allerdings das Problem, dass es dann kaum mehr Neues zu sagen gibt. Das erzeugt in der Regel keine Spannung, sondern Langeweile. In der Geschichte von Tom Sawyer sind wir damit in der Situation vor dem Zaun, dem nur immer wieder ein neuer Farbanstrich geben wird.
Nun wird uns aber die Szene im Neuen Testament so erzählt, dass die offenbare Kenntlichkeit des Heils in der Person Jesu unseren Blicken wieder entzogen wird. Der Sohn geht - mythologisch erzählt in der Himmelfahrtsszene - damit der Geist kommt. Der Entzug der unmittelbaren Kenntlichkeit des Erlösers zugunsten seiner Vergegenwärtigung im Heiligen Geist und im Glauben der Gemeinde, charakterisiert im übrigen, nach
Hegel und Tillich (*26)
, auch die Darstellungsform des Abendmahls. Im Genuss der sichtbaren Heilszeichen werden diese dort zum Verschwinden gebracht. Brot und Wein werden gegessen und getrunken zugunsten der Gegenwart des Heils in den Glaubenden.

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(*26) Vgl. dazu M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000, 380.


3.3 "Empty Space"
Ich möchte diese christologische Figur von
"Anwesenheit durch Entzug" (*27)
mit dem Konzept von "empty space" vergleichen, das
Peter Brooks (*28)
für das Theater entwickelt hat. Nach Brook muss,
"damit ein Ereignis von bestimmter Qualität stattfinden kann, ein leerer Raum geschaffen werden. Ein leerer Raum erlaubt das Entstehen von etwas Neuem, denn alles, was mit Inhalt, Bedeutung, Ausdruck ... zusammenhängt, erwacht erst zum Leben, wenn es als unverbrauchte und neue Erfahrung geschieht". (*29)

In diesem Sinn wird im Bild von der Himmelfahrt Christi, das Leerwerden des christologischen Bedeutungsraums geschildert. Ein Wieder-Unbestimmt-Werden der Bestimmtheit des Heils in Christus, das einen Spielraum der Variationen eröffnet, in dem erst das extra nos in Christus konstituierte Heil im Heiligen Geist in nobis wirken kann. Denn erst im Entzug der Kenntlichkeit, im Raum der Unbestimmtheit wird die Selbsttätigkeit des Menschen wacht und beginnt die Imagination zu arbeiten. Die Imagination ist
"a muscle that enjoys playing games" (*30)
, ein Muskel, der es liebt Möglichkeiten durchzuspielen, wenn man ihm dafür Raum gegeben. Die Imagination ist deshalb der natürliche Verbündete des Heiligen Geistes. Wird sie durch den Entzug eindeutiger Vorgaben auf die Suche geschickt, bekommt der Heilige Geist eine Chance das Heil zu bewirken, das sich nicht in der mechanischen Wiederholung vertrauter Formeln erschöpft - streichen, immer nur den ewig gleichen Zaun überstreichen - sondern das in uns als unverbrauchte und neue Erfahrung geschieht.
Ohne diese Entleerung der bereits etablierten Formen und Formeln, wüsste der christliche Glaube, der in der Tat nichts Anderes sagen will, als dass in Christus das Heil offenbar ist, dies nicht immer wieder anders zu sagen. Das Evangelium wäre, wie Peter Brook das zuspitzt, ein
"deadly theatre" (*31).
Es kann durchaus mit großem rhetorischen Aufwand inszeniert werden.
"We see this play done by good actors in what seems like the proper way - they look lively and colourful, there is music and everyone is all dressed up ... Yet secretly we find it excruciatingly (!) boring." (*32)
Tödlich langweilig ist die Aufführung des Evangeliums, weil sie trotz des inszenatorischen Aufwands innerlich nicht vom Fleck kommt. Sie hat die Qualität mechanischer Wiederholungen. Ließe sich in diesen Sinn steter Wiederholung das Heil in Christus auf Dauer stellen, würde es genügen jeden Sonntag die zentralen Texte des Neuen Testaments der Gemeinde vorzulesen. Diese Verfahren böte ein Maximum an Sicherheit und ein Minimum an Lebendigkeit.
Einen "mechanical actor" beschreibt Brooks als einen Schauspieler, der nur getreu seine Vorgaben ausführt, den vorgeschrieben Texte, die Anweisungen des Regisseurs.
"He hides in his mechanical shell because it gives him security." (*33)

Das Streben nach Sicherheit im Gottesdienst bewahrt im Herzen der Religion nur tote Buchstaben, die Notate gelebter Religion, nicht aber ihre Lebendigkeit.

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(*27) Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 1978, 222 "Gott ist [im Wort] als Abwesender anwesend."

(*28) Peter Brook, The Empty Space, New York 1968/1996; The Open Door. Thoughts on Acting and Theatre, New York 1995; dt.: Das offene Geheimnis - Gedanken über Schauspielerei und Theater, Frankfurt 1998. Zur Bedeutung von Peter Brooks Überlegungen zum Theater für Gottesdienst und Liturgie vgl. U. Suhr, Das Handwerk des Theaters und die Kunst der Liturgie. Ein Theologischer Versuch über den Regisseur Peter Brooks, in: P. Stolt/W. Grünberg/U. Suhr (Hg.), Kulte, Kulturen, Gottesdienste. Öffentliche Inszenierungen des Lebens, Göttingen 1996, 37-49; außerdem Karl-Heinrich Bieritz, Spielraum Gottesdienst. Von der "Inszenierung des Evangeliums" auf der liturgischen Bühne, in: A. Schilson/J. Hake (Hrsg.) Drama "Gottesdienst", 1998, 69-101.

(*29) Peter Brook, The Open Door.

(*30) A. a. O. 32.

(*31) Peter Brook, The Empty Space, 9-41

(*32) A. a. O. 10.

(*33) Peter Brook, The Open Door, 29.


3.4. Pneumatologische Variationen
Offenbar aber muss das, was in Christus in unüberbietbarere Deutlichkeit und Bestimmtheit als Heil erschienen ist,
"unter variierenden Lebens- und Zeitumständen wiederholt" (*34)
werden. Dann ist es aber nicht die Crux, sondern die Chance des Glaubens, dass Christus bestimmt und unbestimmt zugleich ist, Vorgabe und empty space in einem. Deshalb kann in der christlichen Kirche nicht nur "wiedererzählt" werden, was sie in ihrem Wesen konstituiert, sondern es kann
"weitererzählt" (*35)
werden. Es kann nicht nur rezitiert, sondern es kann rezipiert, nicht nur identifiziert, sondern es kann
variiert (*36)
, und das heißt: es kann und es muss mit Bedeutungen gespielt werden. Solche Variationen sind nicht äußerliche Anwendungen eines feststehenden, unabänderlichen Kerns, der nur den gewandelten Zeitumständen angepasst wird. Sie sind Ausdruck eines Vermittlungsgeschehens, in dem der christliche Glaube sich ständig ändert und in dem er Gottes selbst, seinen Geist am Werk sieht.
Nicht zufällig wird deshalb der Heiligen Geist in der Tradition als Bewegung geschildert. Man könnte genauer sagen, eine Spielbewegung, die
"den jeweils erreichten Ausdruck einem Risiko aussetzt".(*37)
Denn man kann das Gleiche nur dann immer wieder anders sagen, wenn man bereit ist, die gewonnene Bestimmtheit des Heils aufs Spiel zusetzen. Also nur, wenn in der Auslegung der derselben Texte ein Raum der Unbestimmtheit zugelassen wird und nicht immer schon klar ist, was am Ende herauskommt, kann diesem Text eine Gegenwärtigkeit abgewonnen werden, die nicht auf Wiederholung des bereits etablierten Sinns hinausläuft. Es ist eine Bewegung, die in den offenen Raum, den Spielraum von Bedeutungsvarianten führt, die nicht schon vom Texte abgegolten sind. Und es ist eine Bewegung, die immer wieder zu diesen Texten zurückkehrt. Die also an Tom Sawyers Zaun arbeitet, nicht unter seinem Baum, weil sie in der kreativen Arbeit und der subjektiven Aneignung des vorgegebenen Heil in Christus die (pneumatologische) Erfahrung eines Sinnüberschusses macht, den sie nie ausschöpfen kann.

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(*34) K. Stock, Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, 1995, 141.

(*35) I. U. Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos, 1993, 215. Zu Kirche als Erzählgemeinschaft vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 426.

(*36) Zum Verhältnis von Unbestimmtheit und Bedeutungsvarianz, vgl. M. Moxter, Ungenauigkeit und Variation. Überlegungen zum Status phänomenologischer Beschreibungen, in: F.J.Wetz/H. Timm (Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt 1999, 184-203

(*37) "To put at risk on one´s present self-understandig", D. Tracy, Plurality and Ambiguity. Hermeneutics, Religion, Hope, San Francisco 1987, 16, 89; vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2002, 405.



3.5. Homiletisches Spiel
In der homiletischen Literatur wird dieses Spiel mit den Möglichkeiten des Textes in dem Arbeitschritt untergebracht, der zwischen Exegese und Abfassen der Predigt steht: der sogenannten
Meditation (*38).
Etwas schematisch geurteilt könnte man sagen: die Exegese ist Anwalt des Textes, die Predigt Anwalt der Gemeinde und die Meditation ist Anwalt des Predigers. Nirgends sonst im Predigtgeschäft kommt seine Person so zum Vorschein, wird der Kontakt zu seiner Person, seinen Gefühlen, seiner Wahrnehmung, seiner Lebendigkeit, alles was in der Theatersprache der Subtext heißt, so zum Thema wie an diesem Punkt.
Die Meditation hat in der Predigtarbeit die Funktion des "empty space". Sie führt den Prediger von seinen exegetischen Ergebnissen ins Offene eines imaginativen Schweifens und Suchens - so als wüsste er nichts. In der Meditation beginnt die Verwandlung der Person des Predigers, die Vergegenwärtigung seiner Variante für das Heil in Christus, die Rechtfertigung seiner Person, die in ihm den Text als eine neue unverbrauchte Erfahrung schafft. Weil aber die Meditation mit dem Risiko eines offenen Raums verbunden ist, der keine gerichteten Anschlüsse kennt nach Art der Regeln in einem "game", die immer angeben wie das Spiel weitergeht, sondern einem tastenden, absichtslosen Vorwärtsschreiten gleicht, einem spielerischen Suchen und Probieren, also einem
"play" (*39)
, kann der "empty space" in der Meditation auch einem "horror vacui" auslösen. Die Risikobereitschaft des Predigers ist dann überfordert, die spielerische Bewegung wird frühzeitig abgebrochen. Man zieht sich auf praktische Zwecke, auf Anwendungen für den Hörer oder auf gesicherte dogmatische Erkenntnisse zurück. Vieles von der Starre und Leblosigkeit in den Gottesdiensten mag mit solchen "shortcuts" zu tun haben. Abkürzungen, welche die Inkubationszeit des Heiligen Geistes in der Person des Predigers unterschätzen. Die Auslegung des Textes und die Liturgie mag dann noch so brillant gestaltet sein, wenn die Person des Predigers unentwickelt bleibt, teilt sich dies im Gottesdienst als ein "deadly play" im Subtext mit.
Aber die Empfänglichkeit für den Zufall der Gnade und die Bereitschaft sich verwandeln zu lassen in der offenen Bewegung des Heiligen Geistes kann geübt werden. Ein solche Übung bietet "playing arts", nicht im Medium biblischer Texte, aber doch im Medium des offenen Spiels der Kunst. Es ist eine wichtige Erfahrung, die weiterhilft, um dann auch im Eigenen spielend ins gelobte Land zu kommen.

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(*38) W. Trillhaas, Einführung in die Predigtlehre, 1974, 34-38; E. Hirsch, Predigerfibel, 1964, 104-140.

(*39) Zum Unterschied von "game" als regelgeleitetes Spiel mit gerichteten Anschlüssen (Kampfspiel etc.) und "play" als Spiel mit nicht gerichteten, unvorhersehbaren Anschlüssen (absichtsloses Spiel), vgl. P. Dais, "Einführung in die Theologie des Spiels" (Vortragsmausskript 9.2.2002, unveröffentlicht) mit Hinweis auf Marcel Martin.


Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.